Use it or lose it – mit Lesen und Schreiben gegen die Krise der Öffentlichkeit

Dem französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss verdanken wir die Unterscheidung in kalte – also auf die Anpassung der Kultur an die Umwelt ausgerichtete – und heiße – also auf die Anpassung der Umwelt an die Kultur ausgerichtete – Gesellschaften. Der in dieser Unterscheidung angelegte Entwicklungspfad lässt sich insbesondere in Hinblick auf die Art, wie wir aktuell den Zustand des öffentlichen Diskurses erleben, weiterdenken. Wenn Philosophen wie Jürgen Habermas und Soziologen wie Andreas Reckwitz unter dem Eindruck der medialen Digitalisierung gleichermaßen auf eine Krise der allgemeinen Öffentlichkeit hinweisen, dann liegt die These des Übergangs in eine überhitzte Gesellschaft, in der wir die Ausrichtung (zumindest) der jahrhundertealten Traditionen unserer Kommunikationskultur an neuen technologischen Möglichkeiten wie digitaler Interfaces, Algorithmen-basierter Formate und KI-gestützter Inhalte erleben, nicht fern.

Hier steht viel auf dem Spiel. Der Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Schweiger hat mit Bezug auf die Veränderungen, die Twitter für die öffentliche Kommunikation gebracht hat, den Finger in die Wunde gelegt: „Realität ist eine Konstruktion, auf die sich Menschen und Gesellschaften durch kommunikativen Austausch und gemeinsame Narrationen einigen – oder eben auch nicht“. Schweiger weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auf digitalen Plattformen wie Twitter „Journalismus als professioneller und unabhängiger Schiedsrichter“ keinen Platz findet, was der Entstehung einer „konsistenten Version gesellschaftlicher Wahrheit“ nicht zuträglich ist und – so muss man hinzufügen – zugleich auch ein Grund für die Flut von sprachlichen Euphemismen, Superlativen und Alarmismen in der digitalen Sphäre ist.

Die Herausforderung, die digitale Rezeptions- und Produktionsbedingungen für alle (hier ist der eigentlich überkommene Begriff dennoch angebracht) Öffentlichkeits-Arbeiterinnen und -Arbeiter bringt, ist bei genauerer Betrachtung aber weitreichender. Noch gilt der Erwerb und der Einsatz komplexer Sprache mitsamt der hierfür erforderlichen Verdrahtung des menschlichen Gehirns als ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal des Homo Sapiens – inklusive der einmaligen Fähigkeit, „sich über Dinge auszutauschen, die es gar nicht gibt“, wie der israelische Universalhistoriker Yuval Noah Hariri feststellt. Die Betonung liegt hier auf noch, denn in digitalen Zeiten ist es um die sprachlichen Fähigkeiten nicht immer gut bestellt. Und das hat Gründe.

Maryanne Wolf, eine an der University of California lehrende Expertin für Alphabetisierung, weist seit Jahren auf den Einfluss digitaler Medien bei der unerlässlichen kontinuierlichen Pflege individueller Sprachfertigkeiten hin. Wenn das vorherrschende Medium – hier der Computer in all seinen stationären und mobilen Erscheinungsformen – schnelle, Multitasking-orientierte Arbeitsweisen zum Umgang mit großen Informationsmengen begünstigt, wird sich auch das Lesen beschleunigen und weniger Zeit für deep reading inklusive Analyse, Einfühlung und Schlussfolgerung bleiben. Skimming sei die neue Form des Lesens, bei der die Augen in F- oder Z-Mustern nach den wesentlichen Aussagen in Texten suchen und dem Gehirn gar nicht die Zeit bleibt, komplexe Gedankengänge zu erfassen.

Es geht aber nicht nur um das Lesen. Manche Vertreter unserer Zunft sind der festen Überzeugung, dass KI-geschriebene Texte in der PR dauerhaft zum Alltag gehören werden, wenngleich aktuell konstatiert wird, dass noch keiner der Anbieter bisher die Qualität generiert, die den Ansprüchen professioneller Kommunikationsarbeit genügt. Die Idee ist, dass die Maschine zumindest die viel zitierte Angst vor dem weißen Blatt nimmt, indem sie KI-gestützt Textteile zu definierten Themen formuliert, die der Mensch dann verfeinert. So nachvollziehbar der Wunsch ist, aufwendige Formulierungsprozesse zu rationalisieren und so angemessen dies auch bei bestimmten Kategorien von rein nutzwertorientierten Texten sein kann, so sehr sollten hier Warnzeichen vor einer kommunikativen Singularität aufleuchten, in deren Logik irgendwann kontinuierlich KI-basierte Texte für Algorithmen-optimierte Plattformen entstehen.

Der Soziologe Heinz Bude hat die Folgen, die sich hieraus für den Stimmungshaushalt einer Gesellschaft ergeben können, mit dem Begriff „Beschleunigungsimperativ“ auf den Punkt gebracht: „Wenn man alle drei Stunden eine neue Headline braucht, um den Traffic auf der Seite zu halten, dann muss man die Prinzipien von Aktualität, Emotionalität und Visualität unbedingt befolgen“.  Man darf sich aber auch nicht wundern, wenn dann gleichsam nur noch Maschinen mit Maschinen kommunizieren und der Mensch – von der Last des Schreibens befreit und nur noch des oberflächlichen digitalen Lesens mächtig – Öffentlichkeit mehr als unwägbares Schicksal denn als gestaltbaren Diskurs erlebt.

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