Lotse in unbekanntem Gewässer – Kommunikationsmanagement für eine Welt aus den Fugen

Krisen, Kriege, Katastrophen: Kommunikatorinnen und Kommunikatoren agieren heute – um es mit Shakespeares Prinz Hamlet zu sagen – in einer „Zeit aus den Fugen“; Begriffe des öffentlichen Diskurses wie Transformation, Zeitenwende oder geopolitische Verwerfungen verweisen eindeutig darauf. Über Jahrzehnte etablierte Konzepte und Sinndeutungen wie Multilateralismus und Globalisierung erscheinen in Frage gestellt. Zugleich erleben wir die Rückkehr des Staates als Gestalter wirtschaftlicher Zusammenhänge v.a. im Kontext der Bewältigung des Klimawandels. Das Krisenmanagement in der Corona-Pandemie hat diesen Trend noch verstärkt. Die Folge: 51 Prozent der vom Online-Umfrageinstitut Civey repräsentativ befragten Deutschen spricht sich für die staatliche Regulierung von Preisen z.B. für Strom und Miete aus, nur 36% vertrauen hier dem Markt.

Unternehmen bewegen sich zunehmen in einer Umgebung, in der Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb als Grundprinzipien in Frage gestellt werden. Zugleich steigen die Anforderungen nicht nur an ihre gesellschaftlichen Leistungsbeiträge jenseits des wirtschaftlichen Erfolges, sondern auch an ihre politische Positionierung. Dabei wirken zwei Kommunikationslogiken, auf die der 2021 verstorbene Sonderbeauftragte der UN für Unternehmen und Menschenrechte John Ruggie hingewiesen hatte. Während umfassende Berichterstattungspflichten zu ESG-Standards die proaktive Kommunikation der Unternehmen ermöglichen („knowing and showing“), stellen die Anforderungen externer kritischer Stakeholder wirtschaftliche Akteure oftmals nur an den Pranger („naming and shaming“).

Hier spielt die völlige Umwälzung des Herstellungsprozesses für Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren eine verstärkende Rolle. Wo Massenmedien zuvor als Gatekeeper und Aggregatoren für den gesellschaftlichen Diskurs innerhalb der Öffentlichkeit gesorgt haben, sorgen heute v.a. soziale Medien für die Entstehung vieler Öffentlichkeiten, die miteinander in Konkurrenz um Themen- und Deutungshoheit stehen. Insbesondere bei politisch aufgeladenen Themen wird Unternehmen heute immer öfter die Gretchenfrage gestellt und ein Bekenntnis nicht nur verlangt, sondern auch dokumentiert. Die Unternehmenslisten von Yale-Professor Jeffrey Sonnenfeld sind hier beispielhaft – auch für die Chance für Unternehmen sich je nach Frage im gleichen Zeitraum im Töpfchen und zugleich im Kröpfchen wiederzufinden.

Wenn aus Öffentlichkeitsarbeit – um den überkommenden Begriff ausnahmsweise einmal zu verwenden – „Öffentlichkeiten“-Arbeit wird und aus Kommunikationsmanagement eher kommunikatives Risikomanagement, dann wird eine Aufgabe besonders anspruchsvoll, die früher eher zum klassischen PR-Einmaleins gehörte: das Zeichnen von verlässlichen und sinnvollen Lagebildern als Orientierungspunkt für kommunikative Vorgehensweisen. Dies um so mehr, wenn man in globaler Kommunikationsverantwortung steht und sich damit zwangsläufig auch in politischen Spannungs- und Konfliktfeldern bewegt. Da es hier oftmals um Dilemma-Konstellationen geht, ist die permanente Neu-Kalibrierung der kommunikativen Linie zwingend. Entscheidender Erfolgsfaktor für diese Lotsenarbeit ist die Identifikation der neuralgischen Punkte, an denen die unvermeidlichen Abweichungen zwischen wirtschaftlichen Erfordernissen (z.B. Profitabilität), gesellschaftlichen Erwartungen (z.B. Berücksichtigung aller (!) Stakeholder-Interessen) und Akzeptanz der zunehmen fragmentierten Öffentlichkeit (z.B. maximale Transparenz) zu unkalkulierbaren Risiken werden. Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser sprechen im Rahmen ihrer Diagnose der Gegenwartsgesellschaft in Anlehnung an die Physiotherapie von „Triggerpunkten“.

Um diese Triggerpunkte zu erkennen und kommunikativ wirksam zu behandeln, braucht es mehr als immer feinere Analysen des medialen Status Quo. Zwar hilft modernes KI-basiertes Monitoring, um die von Lothar Rolke und Jörg Forthmann kürzlich konstatierte „Überforderung beinahe jeder Kommunikationsabteilung“ zu bewältigen, aber zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung liegt unbekanntes Territorium mit Untiefen, Riffen und Strömungen. Tatsächlich hat der deutsche Reputationsforscher Manfred Schwaiger überzeugend nachgewiesen, dass veröffentlichte Meinung nur ein schwacher Indikator für die öffentliche Meinung ist – u.a. weil „viele Mediennutzer einfach an Unternehmensthemen nicht interessiert sind, es sei denn, sie sind unterhaltsam“. In einer Zeit aus den Fugen kommt dem Kommunikationsmanagement eine entscheidende Lotsenaufgabe für das resiliente Unternehmen zu. Dabei hilft weder die Flucht ins Ungefähre des Selbstverständnisses – etwa als Chief Purpose Officer – noch der Fokus auf den hierarchischen Aufstieg. Erfolg hat, wer die Hand an die richtigen Triggerpunkten legt und die Übersicht behält, die Prinz Hamlet nicht hatte, weil er sich zu viel vornahm: „Die Zeit ist aus den Fugen; O verfluchte Bosheit, dass ich geboren wurde, um es in Ordnung zu bringen!“.

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